Anne kleidet sich vorwiegend in hellem Blau. Vielleicht weiß sie einfach, dass die Farbe ihr steht. Ihre Kleidung strahlt eine Klarheit aus, die von ruhiger Entschlossenheit kündet. Die Auswahl in ihrem Kleiderschrank im Studentenwohnheim ist nicht groß. Sie stammt aus einfachen Verhältnissen und ist die Erste in ihrer Familie, die an die Universität geht. Seit einiger Zeit betrachtet sie regelmäßig im Spiegel ihren Bauch, der bald nicht mehr in ihre Kleidung passen wird. Sie erwartet ein Kind, das sie nicht will. Auf das, was ihr bevorsteht, ist sie nicht vorbereitet. Eine ungewollte Schwangerschaft bedeutet das Ende der Welt. Der Abbruch wird in Frankreich noch bis 1975 illegal sein. Nachdem ihr Versuch mit einer Stricknadel scheitert, bleibt Anne nur noch der Ausweg, zu einer Engelmacherin zu gehen. Ein Privileg der Reichen. Aber ihr Entschluss steht fest, sie wird keinen Moment davon abweichen. Anne ist eine hervorragende Studentin, ihre Zukunft wird sie nicht aufgeben. Ihren Eltern kann sie ihr Geheimnis nicht anvertrauen. Ihre Kommilitoninnen gehen sofort auf Abstand. Der Vater des Kindes, eine flüchtige Bekanntschaft, spielt nur marginal eine Rolle: er lebt anderswo, ist kein Scheusal, aber in der Not wäre auf ihn kein Verlass. Es ist ein Parcours schrecklicher Anfechtungen, den Anne bewältigen muss. Audrey Diwan schildert ihn mit einer Nüchternheit und Präzision, die der Einfühlung nicht im Wege stehen. Sie gewann in Venedig 2021 den Goldenen Löwen für diesen Grundimpuls des Kinos: der Bereitschaft, mit einer Figur zu bangen und zu hoffen.
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